Der Weg vom Reformationstag zu Advent und Weihnachten wird von einem Schirm überspannt, auf dem die Worte „Gnade“ und „Liebe“ stehen. Gegen Ende des des Kirchenjahres bekommt dieser Schirm jedoch einen Riss und es regnet „schwierige Themen“: Vergänglichkeit, Tod und Gericht. Besonders letzteres ist für Protestanten eine harte Nuss. Wie passt die Vorstellung eines richtenden Gottes bzw. eines richtenden Christus zum „sola gratia“, das auf die Liebe Gottes baut? Für den Juden Paulus ging das offenbar zusammen, denn Paulus erinnert immer wieder daran, dass es nicht egal ist, wie man sich in seinem Leben verhält. Dabei trägt man nicht nur Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen und sich selbst, sondern auch gegenüber Gott. Mir hat sich dieses Motiv auf einer Tagung erschlossen, auf der ein älterer katholischer Theologe ganz unbefangen über das jüngste Gericht gesprochen hat. Sinngemäß hat er gesagt: Wie werden im Licht der Liebe Gottes unser Leben als das erkennen, was es war und was es hätte sein sollen. Dazu werden Momente gehören, auf die wir stolz sein können – aber eben auch Momente, die uns tief beschämen werden. Zurück zum Ausgangsbild: Mit diesem Wochenspruch bekommt der Schirm einen Riss – aber er zerreist nicht.
„Offenbar werden vor dem Richterstuhl“: Keine schöne Perspektive, jedenfalls auf den ersten Blick.
Da kommt ja alles raus, was bisher verborgen war! Und wir verbergen ja mancherlei, was uns an uns selbst nicht so gut gefällt. Manchen ist das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl so unlieb, dass sie am liebsten ganz auf diese uralte, jüdische wie christliche Vorstellung verzichten möchten heute.
Aber können wir wollen, dass die schlimmen Übeltäter dieser Welt einfach davonkommen und über ihre Opfer endgültig triumphieren? Ist der Wunsch der Opfer, dass es am Ende in allen Ungerechtigkeiten doch noch Gerechtigkeit gibt, nicht legitim? Müssen wir nicht Gott das Recht überlassen, alles wieder zurecht zu bringen? Aber Gott sei Dank: Der Richterstuhl Christi ist ja nicht das Amtsgericht um die Ecke.
Da sitzt einer zu Gericht, der es herzensgut mit den Menschen meint. Und so vertraue ich darauf, dass auch etwas davon offenbar werden wird (und schon immer mal wieder offenbar wird im Leben), was gut gelungen ist und anderen geholfen hat. Etwas zurechtbringen kann ja auch heißen: Etwas wieder reparieren, so dass wir einander wieder befreit in die Augen schauen können. Am allerletzten Ende jedenfalls.
Der Apostel Paulus spricht im Kontext des Wochenspruchs von Versöhnung und von dem unbedingten Versöhnungswillen Gottes hat er an vielen Stellen im Judentum lernen können.
Und davon lernen wir Christenmenschen noch heute.
„Kein Gericht ist auch keine Lösung“ findet Dr. Christian Staffa mit Blick auf den heutigen Wochenspruch:
Es steht außer Frage, dass der Gedanke, der Wunsch, die Zusage, dass es ein Gericht Gottes über die Welt gibt, die endlich Gerechtigkeit herstellt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit, ein tröstender ja revolutionärer ist. Walter Benjamin gibt dieser biblische Gedanke die Hoffnung, dass die Opfer der Geschichte nicht vergessen sind.
„Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber (vielleicht hier kühn einzusetzen Theolog*innen) wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“
Deshalb ist für Martin Buber der Tag des Gerichts ein Festtag, ein Tag der Erneuerung, ein Tag der Umkehr.
Gleichzeitig ist das Gericht eine heikle theologische Figur, weil sie so unglaublich missbrauchsanfällig ist. Das hat wohl dazu geführt, dass in unseren Kirchen von Gericht selten die Rede ist. Dazu aber wäre zu sagen: Kein Gericht ist auch keine Lösung.