Auf Hebräisch lautet Ps 31,16a: „In Deiner Hand sind meine Zeiten“. Es gibt also gute und schlechte Zeiten, aber zu jeder Zeit will ich mich bei Gott bergen. Die Luther-Übersetzung ebnet das Auf und Ab von Zeitläuften ein. So passt der Spruch zu einer Beerdigung, aber in Psalm 31 ist es ein Mensch, der um sein Leben ringt angesichts von Feinden. Die Hand Gottes steht der nach ihm greifenden Hand der Verfolger gegenüber, sie ist die einzige Zuversicht.
Voller Hoffnungen und voller Ängste stehen wir an der Schwelle zu einem Neuen Jahr. Für Menschen in Israel und für Juden und Jüdinnen weltweit hat das Jüdische Jahr 5784 im Herbst furchtbar begonnen, und nun zur Jahreswende des Gregorianischen Kalenders sind die Aussichten nicht besser geworden. Große Teile der Welt scheinen sich darauf verständigen zu können, dass mit der Beseitigung Israels alle Probleme gelöst wären. Die Feinde und Verfolger sind ganz real, die Verzweiflung und das Alleinsein auch. Warum bleibt als Zuflucht allein Gott?
Psalm 31 beginnt mit den hebräischen Worten Lamnazeach, mismor leDavid, also „für den Dirigenten/Leiter, eine Melodie Davids“. Immer, wenn ein Psalm von David mit „Melodie Davids“ beginnt (im Gegensatz zu leDavid mismor, also „von David, eine Melodie“) wissen wir, dass sich David in einer schwierigen Situation an Gott wendet. Der Zusatz Lamnazeach macht deutlich, dass sich David voll und ganz in den Händen Gottes, der uns führt, uns „dirigiert“, befindet. König David ist in Gefahr, seine Feinde schmieden Pläne gegen ihn. Trotzdem ist er zuversichtlich und vertraut auf Gott, denn er weiß, dass Gott, der ihn vorher gerettet hat, ihn auch jetzt nicht in die Hände seiner Feinde geben wird. „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Nach dem jüdischen Gelehrten Raschi ist es Gott, der unsere Zeiten lenkt und bestimmt, auch unser Ende. Mit Vers 16 sagt David, dass sein Schicksal in Gottes Händen liegt. Das ist nämlich eine andere Bedeutung des Hebräischen „Et“, also „Schicksal/Ereignis“. Der Vers geht aber weiter. David nimmt Gottes Dirigat an, aber er nimmt es nicht einfach hin. Er bittet Gott um Rettung: „Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen”.
Von David lässt sich lernen: Wir können unser Schicksal getrost in Gottes Hände geben und doch unser Leben annehmen und für unsere Sache streiten